Mehr als 17 000 Inseln, bevölkert von einer Viertelmilliarde Menschen – Indonesien ist ein Land der Extreme, Sehnsuchtsland vieler Fernweh-Geplagter weltweit … und zugleich Heimat unzähliger Fußballverrückter. Wie lebt es sich dort mit dieser Leidenschaft, die wir alle nur zu gut kennen? Der Schweizer Andrin Brändle, Groundhopper und Anhänger des FC St. Gallen, hat drei Monate lang die Ultras der „Brigata Curva Sud“ von der Insel Java begleitet, hat ihren Alltag und die Liebe zu ihrem Verein, der PSS Sleman, erlebt und mit ihnen etliche Heim- und Auswärtsspiele besucht. Seine Erfahrungen hat er in dem lesenswerten Buch Ein Sommer mit Sleman veröffentlicht. Grund genug, uns mal ausführlich mit Andrin zu unterhalten. Ein Gespräch über Länderpunkte, Insel-Hopping, überforderte Polizisten und Burberry-Mäntel bei 35 Grad.
Gude Andrin! Schön, dich bei uns zu haben. Wenn ich richtig informiert bin, bist Du Anhänger des FC St. Gallen. Erzähl uns doch bitte einmal, wie Du zum Fußball gekommen bist.
Hi Mark, danke für die Einladung! Bei mir war das kein klassischer „Der Vater bringt den Sohn zum Fußball“-Werdegang. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und bin erst nur sporadisch mit einem Kumpel nach St. Gallen zu den Heimspielen gegangen. Als meine Familie in die Stadt gezogen ist, habe ich mir meine erste Saisonkarte gekauft. Mit den Jahren sind dann – wie so üblich – immer exzessiver die Auswärtsspiele dazugekommen.
Schaust Du dir die Heimspiele im Espenblock an oder bist Du eher der gemütliche Stadiongänger mit Stadionmagazin und Sitzplatz?
Ich bin da noch ganz klassisch unterwegs. Fußball bleibt für mich Volkssport, der von seinen Emotionen lebt. Entsprechend hänge ich auch eher einmal am Gitter hinter dem Tor, als auf den Sitzplätzen.
Irgendwann haben Dir die Spiele des FCSG aber nicht mehr ausgereicht und Du hast das Groundhopping für dich entdeckt. Wohin führten dich deine ersten Touren und welches Spiel war dein erster Länderpunkt?
Als Ostschweizer – St.Gallen liegt in einer geografischen Randregion – waren Besuche in Deutschland (Augsburg) und Österreich (Altach/Lustenau) naheliegend. Mein erstes Spiel auf fremdem Boden, das ich dann auch als Ursprung meiner „Tätigkeit als Groundhopper“ bezeichnen würde, war ein Spiel zwischen Brentford und Crawley im Westen Londons: An einem regnerischen Dienstagabend in der unbedeutenden „Johnstone‘s Paint Trophy“ – es war herrlich.
Die einen wollen so viele Länderpunkte wie möglich runterreißen, die anderen lieber eine Liga in einem bestimmten Land komplettieren. Wie war es bei Dir, was waren deine bevorzugten Reiseziele?
Ich sehe mich nicht (mehr) als klassischer Stadionsammler, entsprechend empfinde ich den Zwang, eine Liga unbedingt komplettieren zu müssen, manchmal als befremdend. Persönlich bin ich über Silvester gerne in England, ansonsten bin ich oft in Italien unterwegs. Auch Länder, in denen der Fussball keine wesentliche Rolle spielt und die stattdessen aus kultureller Sicht viel zu bieten haben, ziehen mich vermehrt an.
Irgendwann führten Dich deine Reisen nach Asien. Wie bist Du auf Indonesien gekommen und war Sleman von Anfang an das Ziel deiner Reise?
Schuld waren die „Fussballlichtspiele“ in St. Gallen, ein lokales Filmfestival. Dort haben zwei Deutsche ihren Film „Bobotoh“ gezeigt, eine kurze Dokumentation über die Fanszene von Persib Bandung. Persib ist in Indonesien ein Schwergewicht und die fremde Fankultur hat mich fasziniert. Ich begann, mich genauer zu informieren und landete virtuell schließlich in Zentral-Java bei der PSS Sleman und ihrer unglaublich stimmungsvollen Brigata Curva Sud.
Wie steht es in einem Land, das mit 264 Millionen Einwohnern als viertbevölkerungsreichstes der Welt gilt, um den Fußball? Ist er der klare Volkssport Nummer Eins? Oder was hat dich so am indonesischen Fußball fasziniert?
Fußball ist unbestritten die Sportart, die in Indonesien am meisten Menschen interessiert. Besonders faszinierend war für mich – und das sage ich als Schweizer –, mit welchem Engagement die Fans bei der Sache sind, während ihnen auf dem Rasen meist sehr, sehr bescheidener Fußball geboten wird.
Um ehrlich zu sein, kenne ich die Szene in Indonesien bisher nur von Youtube, Instagram oder aus den einschlägigen Kurvenheften. Wenn ich mir aber die Stadien so anschaue, scheinen die Kurven ausverkauft zu sein. Wie viele Zuschauer kommen zu den Spielen?
Das Wort „ausverkauft“ gibt es so in Indonesien nicht. Zumindest nicht auf einen Sektor bezogen. In fast allen Fällen kommen alle, die ein Spiel sehen wollen, auch ins Stadion. Das bietet natürlich exklusive Fotosujets, wenn sich beispielsweise Fans in luftiger Höhe an den Anzeigetafeln festklammern, birgt aber auch immer ein großes Gefahrenpotenzial. Ob ein Spiel gut besucht ist, hängt hingegen mehr von der Uhrzeit ab als vom Gegner. Wird am Wochenende um 15.30 Uhr angepfiffen, sind deutlich mehr Fans im Stadion, als zu gleicher Zeit an einem Montag; solche Anspielzeiten unter der Woche sind leider keine Seltenheit und richten sich nach den Streaming-Diensten, die das Spiel im Internet übertragen.
Derbys und große Rivalitäten sind bekanntermaßen auch in der indonesischen Liga auszumachen. Wer sind die wichtigsten Vereine und wo sind die großen Fanszenen zu finden?
Sich als Verein mit dem Adjektiv „wichtig“ zu schmücken, finde ich anmaßend. In Indonesien gibt es aber sicherlich einige große Vereine mit breiter Fanbasis. So zum Beispiel Persija aus der Hauptstadt Jakarta, ihre Freunde Arema aus Malang und Persib Bandung, der Erzfeind der beiden, der wiederum Freundschaften zu Persebaya Surabaya pflegt. Neben diesen beiden großen Allianzen haben auch Persis Solo oder Bali United renommierte Fanszenen – und natürlich die PSS Sleman.
Italien hatte Mitte der 1990er Jahre großen Einfluss darauf, dass die aktive deutsche Szene neue Wege der Fanunterstützung einschlug. Gab es vergleichbare Einflüsse auch auf die Kurve von Sleman beziehungsweise Indonesien allgemein?
In Indonesien sieht das nicht anders aus. Auch hier kam der Einfluss primär aus Italien. Nur sind hier die Berührungspunkte digitaler Natur und nicht in Form von Erzählungen der Fußballtouristen, die sich in Italien inspirieren ließen und den Stil schließlich in die heimischen Fankurven getragen haben.
Gibt es landestypische Eigenarten beim Support?
Eine Eigenheit, die ich in den Fankurven Indonesiens beobachten konnte, ist die Handhabung von Fahnen. Sie sind stets am unteren Ende des Blocks aufgereiht und werden nicht durchgehend und, wenn überhaupt, nur in vertikaler Richtung geschwungen.
Die Indonesier stehen ja offensichtlich auf die britische Casual Culture. Wie würdest du das Erscheinungsbild der aktiven Fanszene beschreiben?
Viele Indonesier sind große „Adidas Originals“-Fans. Meist gibt es in einer Fanszene eine Gruppe, die sich explizit dem Casual-Stil verschrieben hat und auch bei 35 Grad im nachgeahmten Burberry-Mantel daherkommt – ein lustiges Bild. Natürlich kennen sie auch die Dauerbrenner wie Stone Island oder CP Company, in Indonesien sind solche Artikel aber meist nur schwer zu beziehen und wenn überhaupt, sind sie für einen normalen Fan schlicht nicht bezahlbar.
Verständlich. Kommen wir konkret auf die PSS Sleman zu sprechen. Was hat dich so an dem Verein fasziniert und wie würdest du die Mentalität der Fanszene beschreiben?
Mir haben primär die Farben gefallen! Sie sind grün, weiß und schwarz – wie in St. Gallen! Und die Tatsache, dass in Sleman mit dem Fankonglomerat „Brigata Curva Sud“ die Ursprünge der dortigen Ultrà-Kultur liegen.
Andrin, das berühmte erste Mal: Wann war es bei Dir und wie war das neue Stadionerlebnis?
Es war ein Heimspiel von Sleman gegen PSIS Semarang. Ein eigentlich vielversprechendes Duell zweier großer Teams. Als ich im Stadion war, hatte ich dann bereits Angst, die Fans würden das Spiel boykottieren, als bei Anpfiff die Kurve halb leer war. Mit den Monaten lernte ich, dass es die Indonesier mit der Zeit schlicht nicht so genau nehmen. Entsprechend ist die Stimmung in der zweiten Halbzeit mit vollem Block meist auch deutlich besser, als in der ersten. Leider hat Sleman das Spiel mit 1:3 verloren.
Wie bist du mit den Ultras der Brigata Curva Sud in Kontakt gekommen – und wie haben sie Dich aufgenommen?
Ich habe die Brigata Curva Sud, quasi den Dachverband aller aktiven Fangruppierungen in Sleman, auf Twitter angeschrieben und wurde dann an einen Typen weiterverwiesen, der in Indonesien meine Bezugsperson war – und ein guter Freund wurde.
Wer sind die größten Rivalen von Sleman und wie müssen wir uns die Derbies vorstellen?
Neben Arema Malang — eine Feindschaft, die erst in der abgelaufenen Saison entstanden ist —, hat Sleman keine großen Rivalen. Mit einer entscheidenden Ausnahme: PSIM Jogjakarta. Da die beiden Teams nicht mehr in derselben Liga spielen, kann ich mir ein Derby nur in den Gedanken ausmalen. Die Abneigung zwischen den beiden Fanlagern ist aber gewaltig und gilt als eine der größten und gefährlichsten Feindschaften in ganz Indonesien.
Wer den internationalen Fußball verfolgt, weiß, dass auch in der indonesischen Liga Gewalt ein Thema ist. Gibt es häufig Kontakt zwischen den Fangruppen und welche Strafen (z.B. Stadionverbote) kommen auf die Ultras zu, wenn sie von der Polizei hops genommen werden?
Es kommt immer wieder zu Gewaltexzessen und seit den 90er-Jahren sind bereits 74 Personen in Zusammenhang mit dem Fußball gestorben. Eine traurige Zahl, die Dunkelziffer dürfte aber noch deutlich höher sein. Stadionverbote gibt es keine — aus einem simplen Grund: Kommt es zu Ausschreitungen, sind diese meist großflächig und es herrscht Chaos. Die Strafen bestehen dann darin, dass Dir die Polizei mit ihren Stöcken die Finger oder das Schienbein bricht, sich dann aber – mit der Situation völlig überfordert – bereits auf die nächsten Streithähne fokussiert.
Das klingt heftig. Indonesien muss unheimlich schön und auch sehr groß sein. Sumatra, Java, Borneo und vermutlich Bali werden unsere Leser als Urlaubsregion kennen. Wie organisiert die Gruppe die langen Auswärtsfahrten? Ist der Besuch von Auswärtsspielen per se gestattet?
Es gibt Spiele, bei denen es den Gästefans verboten wird, überhaupt erst anzureisen. Wenn sie – und das ist eigentlich fast immer der Fall – reisen dürfen, entscheidet nicht die Distanz, sondern das Einkommen über das Transportmittel. Einige reisen zum Beispiel in mehreren Tagen per Schiff und Bus zu einem Spiel auf Sumatra, wohlhabendere Fans nehmen den Flieger.
Wie bist du auf die Idee gekommen, ein Buch über die Zeit in Sleman zu schreiben, und wie haben die Jungs dort reagiert, als sie davon gehört haben?
Ich bin mit der Idee nach Indonesien gegangen, irgendwas aus diesen drei Monaten machen zu wollen. Erst dachte ich an einen Bildband, schließlich sind aber derart viele spannende Dinge passiert, dass ich mich an ein Buch gewagt habe. Es heißt „Ein Sommer mit Sleman“ und ist im B&P Verlag erschienen, in dem auch der „Blickfang Ultrà“ erscheint.
Würdest du anderen Groundhoppern empfehlen, die auch vorhaben, nach Indonesien zu reisen?
Sich nicht zu fest auf den Spielplan zu verlassen. Spiele können am Vortag noch verschoben werden und es braucht definitiv genug Nerven und Improvisationsfähigkeit, wenn man in Indonesien zurechtkommen will.
Und welche landestypische Speise müssen sie dort unbedingt probieren?
Martabak Sapi, eine Art warmes Sandwich, das mit lokalen Spezialitäten gefüllt ist, und Beef Rendang, ein curryartiges Gericht aus der Padang-Küche in Sumatra.
Andrin, es ist unheimlich faszinierend, dass du einen Sommer mit Ultras aus einem exotischen Land unterwegs warst und einen «deep dive» in die Kultur, Land und Leute, aber auch der Fankurve machen konntest. Vielen Dank für deine Zeit und dass du deine Erlebnisse aus Sleman mit uns teilst. Die letzten Worte gehören gewohnt unserem Gesprächspartner…
Holt euch ein Buch und nicht vergessen: Wichtig ist im Stadion!
Dem kann ich mich nur anschließen. Das Buch ein Sommer mit Sleman könnt ihr unter den u.a. Links bestellen. Wer neugierig auf Spielberichte aus Indonesien und aller Welt ist, kann gerne die Homepage von unserem Gesprächspartner andrinunterwegs.ch besuchen.
Hier gibt das Buch in Deutschland.
Und hier gibt das Buch in der Schweiz.