Ein Essay von Bobo van Dalen

Bobo van Dalen, ein gleichsam szeneinvolvierter wie schriftstellerisch unbekannter Essayist der Frankfurter Fußballszene, zählt zu der Sapeur OSB-Familie und schreibt seine verqueren intellektuellen Ergüsse im Geiste des Gonzo-Journalismus.

Gonzo-Journalismus wurde von dem amerikanischen Schriftsteller und Journalisten Hunter S. Thompson (bekannt aus seiner Verkörperung von Johnny Depp seines Buches „Fear and Loathing in Las Vegas“) Anfang der 1970er etabliert und zeichnet sich durch eine subjektive, autobiographische und sarkastische Schreibweise aus. Diese Art der Berichterstattung entspricht somit nicht journalistischen Kriterien und exakt aus diesen zynisch wie selbstwahrnehmenden Kontext berichten die folgenden Zeilen.

Die illustre Gesellschaft derer von Sapeur…one step beyond beabsichtigte eine Tour durchs Frankfurter Bahnhofsviertel und wählten dafür den ersten Samstag im Februar. Durch die Europapokalteilnahme des FC Augsburgs, war die Partie unserer Eintracht im geographischen Brandenburg des selbsternannten Freistaates auf den frühen Sonntagabend gelegt worden. Um nicht nüchtern ins Bett gehen zu müssen, suchten wir einen Grund zu Trinken. Der Grund war dann schnell gefunden und hieß Samstagabend.

Obwohl meine Freundin aus gutem Elternhaus stammt und ich hingegen beim Fußball sozialisiert wurde, ist sie trotzdem mit mir zusammen. Und obwohl sie auf umfassende Erfahrungen im Nachtleben zurückblicken kann, sah ich es als meine Pflicht an, sie auf die bevorstehenden Geschehnisse in einem der berüchtigsten Viertel der Republik vorzubereiten. Zu diesem Zeitpunkt ahnte ich nicht, dass ich sein werde, den man hätte vorbereiten müssen.

Anfahrt

Mein Führerschein ist mir lieb und teuer. Die Bahn ist nur teuer und dennoch bevorzugten wir die Anreise auf Schienen, der obligatorischen Alkoholika wegen.

Treffpunkt Zapfhahn

Wer jemals den Film „Blues Brothers“ sah, kennt die Achillesferse von Elwoods Wohnung. Dieses Prädikat könnte sich der „Zapfhahn“ in der B Ebene des Hauptbahnhofs , der Treffpunkt unserer Tour, über den Türsims heften. Jede S-Bahn, die den Hauptbahnhof frequentierte, ließ den Boden und somit die Gerippten vibrieren. Mister Blue, der Initiator der Tour hatte einen neuen BHV-Guide nach alter Schule angepriesen, hatte dummerweise aufgrund Mittagsschlafs den Termin verschlafen und sollte verspätet aber pünktlich zum Essen dazu kommen.

Abendmahl

Eigentlich war ich mir mit mir einig, das abendliche Mahl bei „Maxi Eisen“ einnehmen zu wollen. Seit rund einem Jahr wird nun schon die New Yorker Spezialität in der Münchener Straße angeboten und ich hatte es bisher nicht geschafft, die von der New York Times gelobten Ochsenbrust-Sandwiches zu vernaschen. In einem sechswöchigen Zubereitungsprozess wird das Fleisch zunächst nass gepökelt und mariniert, bevor es dann mit Buchen-, Erlen- und Kirschholz hausgeräuchert und im Ofen fertig gegart wird. Doch ein aufkommender Disput zwischen Mister Green und mir, Mister Black, vor dem Schaufenster des Ladens wurde missinterpretiert: Streitgegenstand war die Frage, ob nun Pastrimi oder eventuell doch etwa Burger dem Gaumen schmeicheln sollte. Durch das Fenster beobachtete das Servicepersonal des „Maxi Eisens“ das Schauspiel. Ihren Gesichtsausdrücken nach, erwarteten sie eine unmittelbar bevorstehende körperliche Auseinandersetzung. Um einen überflüssigen Wachtmeisterruf zu vermeiden, einigten wir uns spontan für „Fletchers Better Burger“, ebenfalls in der Münchener Straße.

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Die Form und Bekachelung des Restaurants erinnert an eine S-Bahnröhre und besticht durch seine reduzierte Ausstattung. Das Publikum war jung und international, was als Euphemismus für Hipster verstanden werden soll. Doch das konnte mir den Appetit nicht verderben. Die Burger waren richtig lecker und die Portionen satt machend. Das Topping ist individuell wählbar und so bestellte ich einen Cheeseburger mit Jalapeños. Zusammen mit Pommes und 0,3er Getränk nach Wahl für rund Zehn Euro kann man echt nicht meckern. Da mich aus dem Kühlschrank heraus ein Flasche Schneider Weiße anlachte, orderte ich besagtes und musste dafür zwei Euro Aufpreis zahlen.

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Moseleck

Nach einer Verdauungszigarette und einem Zwischenbier am Kiosk, wählten wir zum Entrée einen Klassiker. Eine rettende Herberge nach langen Auswärtsfahrten, die mit Wärme, Bier und Soleiern das Warten auf die erste S-Bahn des Tages Richtung heimisches Suburb rollt, das „Moseleck“ Seit mehr als hundert Jahren wird hier Alkohol ausgeschenkt. Selbst alle ohne Rang und Namen sind hier willkommen. Hier schreibt das Leben die Geschichten, von den K.I.Z in „Der Schöne und das Biest“ oder „Raus aus dem Amt“ erzählen. Wenn die Nacht am dunkelsten ist, kann man sich hier Tische mit Professionellen teilen, die ihrer Kundschaft beim gemeinschaftlichen Biertrinken die Flinte kneten. All diese Erfahrungsberichte teilte ich mit Miss Red, die nun ein schaurig schönes Abenteuer erwartete. Als ich über die Schwelle trat, viel mir zuerst das fehlende Soleiglas auf. Dann fiel mein Blick auf Menschen und als meine Augen das Gesehene ans Hirn weiter meldete, formte es meine Mimik in etwa so, als würde ein imaginärer Güterzug auf mich zurasen. War uns das junge internationale Publikum aus dem „Fletchers“ hierher gefolgt oder war da irgendwo ein Nest? Nach zwei Weißbier legte sich meine Verwunderung und wich zu Gunsten diffamierender Unmutsbekundungen. Epische Hasstiraden vermeidend, in aller Kürze: Es gibt so viele Jugendkulturen, doch warum ist dieses Inhaltslehre, selbstbezogene, rückwärtsgewandte und szenelose Phänomen so epidemieartig präsent? Gott Jesus, für deren Kassengestelle, wurde man zu meiner Grundschulzeit selbst von Brillenträgern in die Hecken geschubst. Da werden Harringtonjacken und New Balance adaptiert und jetzt sind diese Szenetypen sogar im „Moseleck“ auf der Suche nach der Szene. Das sind mir ja selbst diese gottverdammten Hippies lieber, die haben wenigsten Werte!

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Pracht

Irgendwann beschlossen wir das Pracht aufzusuchen. Vorbei an einer Gruppe junger Junkies, die sich mitten auf dem Bürgersteig der Taunusstraße einen Schuss Glück aufkochten, war die Bar schon in Sichtweite. Nach einer Zigarette mit Chris, dem Turnschuhexperten von Uebervart und einem kurzen Plausch über bevorstehende Releases der Herzogenauracher, betraten wir den Laden. Meiner Nase schmeichelte der angenehm sandelholzige Duft in Kombination mit der hohen Dichte schöner Menschen, die ich eher in einer gehobenen Diskothek als im Bahnhofsviertel verortet hätte. Das Ambiente ist durchdacht und vermittelte mir das Flair einer skandinavischen Designerwohnung. Dunkle Wände, helle Möbel, Tresen und offene Küche. Schick!

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Eine Flasche Ebbelwoi reihte sich an die nächste. Dieses beliebte Gesellschaftsspiel endete, als ich die erste Selfie-Stange meines Lebens in freier Wildbahn zu sehen bekam. Wortlos verständigten wir uns, die Lokalität zu wechseln. Der Weg führte uns wieder zurück in den Schmelztiegel des Rotlichtviertels. Ziel war die Bar „Bel Ami“ in der Elbestraße, eine kleine feine Bar im Ambiente eines Striplokals der Achtziger. Hier schien die Zeit konserviert, was Einrichtung, Thekenpublikum und die Musik betrifft. Ein beliebter Treff bei asiatischen Transvestiten, Männern in Bademänteln und Fans von Cashewekernen. Stichwort Achtziger: Die Playlist verwöhnte mit feinster britischer britischer Tonkunst. The Smiths, Joy Devision, Stone Roses und David Bowie untermalten das Trinkvergnügen. Hätte ich so nicht erwartet, aber ich hatte mich ja schon in Sachen „Moseleck“ geirrt. Wir waren ja quasi auf Geschäftsreise unterwegs und so besprachen wir die bevorstehenden Sapeur-Projekte und ließen zudem der alkoholgeschwängerten Kreativität freien lauf.

Abfahrt

Zu fortgeschrittener Stunde siegte die Vernunft über den Hedonismus. Miss Red und ich strichen die Segel und verabschiedeten uns von den Lads. Auf dem Weg Richtung Hauptbahnhof beehrten wir noch ein Kiosk, um Getränkeversorgung für die Heimfahrt sicherzustellen. Das Kiosk der Wahl war voller Feierwütiger, die zu elektronischer Musik tanzten. Dieses Konzept erschien mir ähnliche subtil wie eine fleischfressende Pflanze: Mittels Lockstoff (in dem Fall Kippen und Bier) werden potentielle Opfer (Kunden) angelockt und im inneren der Pflanze (der Verkaufsladen) mittels Klebstoff (Tanzmusik) am Fortkommen gehindert und diene der Pflanze als Nahrung (Umsatz). Günstige Getränke, kein Dresscode und gute Mukke? Jeder tappt mal in eine gute Falle! Neben den geschmacksneutralen Massenbieren, wurde eine feine Auswahl bayrischer Klosterbrauereien angeboten. Göttlichen Beistand wähnend, fiel die Wahl auf eine Flasche Pilgerbier. Geiler Stoff, doch das nächste mal gibts wieder Augustiner.

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Fazit

Wem der Eindruck entstand, das Bahnhofsviertel sei ein hessisches Neukölln, geht fehl in der Annahme.

Das Massenphänomen Hipster wird die Zeit schon richten. Es ist halt ein Zeitgeistphänomen und spiegelt die gegenwärtige konzeptlose und obrigkeitshörige Gesellschaftspolitik wider. Die fortschreitende Aushöhlung von Bürgerrechten seit Beginn des neuen Jahrtausends fördert zusehends Widerstand und die Rückbesinnung auf Werte, was im Umkehrschluss den YOLO-Gedanken überlagern wird. Oh, ich schweife ab.

Nach wie vor hat das Bahnhofsviertel seinen zwielichtigen Charme, getaucht in rotes Neonlicht, flankiert von preisboxerartigen Kobererern, die Kundschaft in in ihre Etablissements locken wollen. Mit über 50 Prozent ausländischen Menschen bietet es eine kulturelle Vielfalt, die international seines gleichen sucht. Anders gesagt: Die Welt lebt auf einem halben Quadratkilometer Fläche zusammen. Und dann sind da noch die Junkies, feste Mitglieder des Viertels, die einfach dazugehören.

Als ich im Jahre 1994 meine erste Dauerkarte hatte, ließen mich meine Eltern alleine ins Stadion fahren, mit der Maßgabe das Bahnhofsviertel zu meiden. Um den gut gemeinten Hinweis meiner Eltern nachzuvollziehen, musste ich mir natürlich eine eigenes Bild der verbotenen Zone machen: Die damalige offene Drogenszene die ich dort erstmals sah, hat mich wahrscheinlich für abhängig machende Drogen und den einhergehenden Lebenslauf immun gemacht. Dank einer liberalen und humanitären Drogenpolitik der Stadt Frankfurt, in Person der damaligen Oberbürgermeisterin Petra Roth, hat sich das Straßenbild gewandelt. Wie gesagt, gehören Junkies noch heute zum Straßenbild, doch können sie in Druckräumen wie beispielsweise in der Niddastraße ihrer Sucht unter sterilen und menschenwürdigen Bedingungen nachkommen. Als dann die kreative Szene das Viertel für sich entdeckte, vollzog sich eine weitere Entwicklung. Bei der alljährlichen Bahnhofsviertelnacht öffnet sich das Quartier einer breiten Gesellschaft von tausenden Neugierigen, was einen erheblichen Betrag in Sachen Imagepflege bedeutet (Sapeur OSB berichtete).

Abschließend versuche ich es mal frei nach der hegelianischen Dialektik des Dreierschritts:

Wahrscheinlich erlebt das Bahnhofviertel eine ähnliche Wandlung wie New York seit den späten Siebziger von „Gotham Citiy“ zu der kreativ wie wirtschaftlich prosperierenden Weltstadt schlechthin.

Einerseits wird das Viertel mit samt seinem Image neu belebt. Anderseits ziehen seit geraumer Zeit die Mieten spürbar an und hochpreisige Eigentumswohnungen entstehen an jeder Ecke. Bleibt zu hoffen, dass der kleinste Stadtteil seinen anrüchigen Charme bei seiner Aufpolierung beibehalten wird.

Bei der nächsten Tour durchs Viertel werden wir voraussichtlich mit besagtem BHV-Guide starten, falls ihn Mister Blue nicht wieder vergisst.

Euer B.

Entschuldigt bitte die wenigen Bildern. Aus irgendwelchen Gründen auch immer sind die meisten Bilder abhanden gekommen. Prost!