Wir hatten das große Vergnügen uns mit unserem langjährigen Freund Stefan über sein neuestes Buchprojekt zu unterhalten. Der gute Mann wird unseren Lesern, die sich dem aktiven Kern ihrer Fanszene zurechnen, vermutlich als Herausgeber von Erlebnis Fußball bekannt sein. Falls dem nicht so sein sollte, folgt hier eine kleine Vorstellung.
Seit 2001 erscheint das überregionale Ultra-Magazin Erlebnis Fussball. Viele hochkarätige Interviewpartner hat die EF-Redaktion seitdem vor das Mikro bekommen. Torcida, Gate 13, Schickeria München, zuletzt UGE und die Sturmflut Graz, um nur einige zu nennen. Nun ist über EF ein besonderes Buch erschienen, und zwar über das Thema „Fußballgraffiti“. 656 Seiten sprechen eine eindeutige Sprache. Grund genug, sich mit Stefan über den 3kg-Wälzer zu unterhalten.
Gude Stefan! Es ist schön, dass du für uns Zeit gefunden hast. Lass uns doch zu Anfang über deine Idee und das Konzept zum großen Fußballgraffiti-Buch sprechen. Feuer frei.
Gerne! Die Idee, dem Thema „Fußballgraffiti“ ein eigenes Buch zu widmen, schwirrte schon ziemlich lange in meinem Kopf herum. Graffiti hat wie Fußball und Ultras schon immer eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Und da ich mit EF ständig Themen rund um die Ultrasbewegung behandle, lag es auf der Hand, irgendwann einmal „Fußballgraffiti“ in den Mittelpunkt zu stellen. Die Frage war nur, wann. Dass viele Ultragruppen eine Vorliebe für Graffiti entwickelten und damit auch immer besser wurden, half, die Idee ins Rollen zu bringen.
Und wann wurde die Idee konkreter?
2015 habe ich begonnen, Szenen anzusprechen und Überzeugungsarbeit zu leisten, an einem umfassenden Projekt mitzuwirken. Die Beteiligung bestimmter Szenen war mir besonders wichtig, denn das Konzept sah es vor, die aktivsten Szenen in den Mittelpunkt zu stellen – und ich kann sagen, dass es ohne deren Mitwirken kein solches Buch gegeben hätte. Die Beteiligung sollte über Fotos hinausgehen, ich wollte unbedingt Interviews, Texte und Writer-Stories im Buch haben und damit seltene Einblicke in eine sonst verschlossene Szene geben, die es –und das kann ich jetzt bestätigen – bisher in der Form noch nicht gegeben hatte.
Also geht es über ein reines Bilderbuch hinaus?
Ja, definitiv. Hinter einem Bild gibt es mehr als „nur“ das geschriebene Wort oder den Style. Es geht auch um Spots, skurrile Erlebnisse, Botten gehen, Battles… All die Hintergründe erfährst du nur, wenn du zu den Leuten der Szene fährst und es dir erzählen lässt. Bei diesen Gesprächen waren dann auch mal klassische Trainwriter wie z.B. Creme von AK47 dabei und haben ihre eigene Vita eingebracht. Für mich auch ein ganz wichtiger Punkt: der Blick über den Tellerrand.
Wie bist du redaktionell vorgegangen oder anders gefragt, stand eine momentane Bestandsaufnahme der Szene im Fokus oder die generelle Geschichte Ultras & Graffiti?
Grundsätzlich ging es mir bei Fotos um aktuellere Sachen. Wobei das bei Graffiti ja auch relativ ist, sagen wir deshalb besser Sachen aus den letzten 3 bis 4 Jahren. Wenn in den Interviews bestimmte Bilder zu Wort kommen, die länger zurückliegen, gab es aber auch Ausnahmen. Ich denke da zum Beispiel an den ersten mit Fußballgraffiti besprühten Zug oder den ersten Wholecar, den ebenfalls die Diablos hervorbrachten. Die Historie spielt also definitiv auch eine Rolle und ist, soweit ich mich erinnern kann, auch immer ein Teil in den Interviews und beigesteuerten Texten.
Sticker, Stencils, Tags, Writings, Pieces, Dose, Rolle, Feuerlöscher, Marker, etc. Es gibt viele Arten sein Revier zu markieren oder in einer anderen Stadt eine Duftmarke zu hinterlassen. Auf welche Formen von Graffiti dürfen sich die Leser freuen?
Zu 95% habe ich auf illegale Bombings und Pieces gesetzt. Legale Bilder wurden außen vor gelassen. Kleine Ausnahmen gibt es dennoch, diese waren aber auf wenige Szenen beschränkt, wie z.B. Erfurt, deren Stadt- und Regionsbild von sehr aufwändigen legalen Bildern geprägt ist und wir dieses Charakteristikum nicht unter den Tisch kehren wollten. Auf Streetart wurde bewusst verzichtet.
Welche Highlights dürfen wir neben einem zu erwartenden Bilderfeuerwerk erwarten?
Für mich ist vieles besonders. Das beginnt beim Papier, was eine sehr schöne Haptik hat und die Bilder trotz mattem Anstrich brillant abbildet. Dann hauen mich immer wieder aufs Neue die 656 Seiten um, denn es gibt immer wieder neue Sachen zu entdecken und ich bleibe auf Seiten hängen, um mir Sachen nochmal in Ruhe anzuschauen. Das Layout der Seiten kommt fresh, die Typo ist stabil und die Texte stehen super. Das bedient jetzt vielleicht das Nerd-Klischee, aber bei einem derartigen Umfang kann ein Buch an solchen Sachen scheitern. Rein inhaltsmäßig finde ich die Interviews spannend und freue mich, dass sie so vielseitig sind. Da hast du z.B. die Ansichten der Hansa-Jungs, die ein riesiges Gebiet abdecken, die Unioner, die ihre Farben in umkämpften Gebieten hochhalten, die Perspektiven von „außerhalb“, Ansichten kleinerer, aber nicht minder aktiven Szenen, wie z.B. Osnabrück oder die Chemiker in ihrer umkämpften Stadt. Kurz: Wer sich nur ansatzweise für das Thema interessiert, kommt an dem Buch nicht vorbei.
Trotzdem, wenn du spontan inhaltlich eine Sache im Kopf hast, was würdest du da benennen?
Die Writer-Storie „Dschungel Vibes“ fällt mir da spontan ein. Von einem Freund am anderen Ende der Welt, den ich herzlich grüße, wenn er diese Zeilen hier liest. Ich mag die Geschichte, weil sie aufzeigt, dass das Agieren in Bezug auf Graffiti so unterschiedlich sein kann. Er malt im Dschungel an einem verträumten Spot und anstatt der Bullen, hat er die Gezeiten und wilden Tiere im Hinterkopf…
A propos Highlights, es gab ja auch Goodies zum Buch, oder?
Ja, in Zusammenarbeit mit den Jungs von Loopcolors Germany haben wir eine limitierte Dose mit dem FG-Logo herausgebracht. Diese gab es allerdings nur in Verbindung mit dem mittlerweile vergriffenen Vorbesteller-Paket. Zu diesem Paket gab es auch einen Stoffbeutel mit schwarzem FG-Logoprint. Danke auch an dieser Stelle für den Support!
Durch deine Hefte, wie Erlebnis Fussball, bist du bekanntermaßen in der aktiven Ultraszene sehr gut vernetzt. War es dennoch schwierig, die einzelnen Personen oder Gruppen vom Projekt zu überzeugen oder gab es eine hohe Bereitschaft mitzumachen?
Unterschiedlich. Es gab schon die eine oder andere harte Nuss zu knacken. Eigene Projekte der angefragten Gruppen, für die Fotos zurückgehalten werden sollen oder auch die Strafverfolgung, die das Thema zweifellos mit sich bringt, waren hierbei die Hauptprobleme, die es zu überwinden galt. So zog sich manche Zusage etwas hin und musste gut überlegt sein. Auch nachvollziehbar, erst recht, weil das Buch eben nicht 0815 werden sollte. Umso erfreulicher, dass fast alle der angefragten Szenen letztlich zugesagt haben.
Wie lange hast du insgesamt an dem Buchprojekt gearbeitet?
Letztlich waren es dann 5 Jahre, dabei waren sicher auch Phasen, in denen mal weniger am Buch passiert ist, im Kopf war es aber ständig präsent und der Druck wuchs und wuchs mit jeder Verschiebung.
Stimmt, du musstest das Buch 2x verschieben. Was waren die Gründe?
Bei solch einem umfangreichen Projekt ist man von vielen anderen Personen und Faktoren abhängig: beteiligte Gruppen, Grafiker, Lektoren, Druckerei, Buchbinderei, auch so Sachen, wie dem Veröffentlichungszeitraum etc. Wenn nur ein Rädchen ins Stocken gerät – warum auch immer – hat das Auswirkungen auf das ganze Projekt. Das alles hatte ich in meinem grenzenlosen Tatendrang wohl etwas unterschätzt. Corona kam zu allem Überfluss auch noch dazu. Treffen waren nun nicht mehr so einfach möglich und vieles musste über Telefon/Videokonferenz gelöst werden. Auch beim Thema Vertrieb standen nun Fragzeichen im Raum, denn wie verteilt man die Bücher in einer entsprechenden Menge, wenn es Kontaktbeschränkungen gibt und die Stadien zu sind? Als im Frühjahr 2020 also all die Unsicherheiten da waren und das Buch nicht wie gewünscht finalisiert werden konnte, stand als nächstes das Problem „Sommer“ auf dem Plan, denn es würde kaum jemand ein 3 kg schweres Buch mit an den Badesee oder Strand schleppen… Also hieß es bis Winter warten, weiter Fotos zusammentragen und Interviews führen, bis dann die Buchbinderei bei 656 angelangten Seiten sagte: „Stopp! Kein Druckbogen weiter.“. Und das meinten sie mit vollem Ernst, denn es wäre technisch keine weitere Seite für die Maschinen machbar gewesen. 🙂 Sagen wir es so, Ich nehme daraus eine Menge Erfahrungen mit und vor allem werde ich Projekte nur noch ankündigen, wenn sie in trockenen Tüchern sind.
Warum machst du dir eine solche Arbeit, wenn doch ohnehin alle Social Media nutzen, um sich die Bilder anzugucken?
Ich liebe Bücher und Fanzines. Es macht meiner Meinung nach einen großen Unterschied, wenn man sich ein Foto in einem Buch anschaut. Die Qualität ist im Gedruckten besser, der Bildausschnitt bewusster gewählt, die Seitenzusammenstellung bietet zusätzlich viel größere Spannungsmöglichkeiten als ein kleiner Handybildschirm. Außerdem findet sich allerhand bisher unveröffentlichtes und exklusives Fotomaterial im Buch, weil es eben schon etwas Besonderes ist, in einem Buch abgedruckt zu sein. Hinzu kommt der dokumentarische Anspruch eines Buches, was ja ein abgeschlossenes Projekt ist, mit einer bestimmten Menge an Informationen (Interviews, Texte, …), das erreicht man nicht mit einem Foto oder einer Bilderstrecke auf Instagram. Ein Vergleich halte ich deswegen für sehr schwer.
Ein Beispiel, was mir gerade in den Sinn kommt. Hansa hat z.B. sehr viel Wert darauf gelegt, dass man auch die Zugmodelle erkennt. Die Wertigkeit lag also mitunter mehr auf der Stelle, dem entsprechenden Land, wo das Graffiti gemalt wurde, als dem eigentlichen „Bild“. Das nur als Vorstellung, wie ich mit den eingereichten Fotos umgegangen bin. Es war teilweise schon eine Wissenschaft für sich…
Wovon war es abhängig, welche Fotos ins Buch reinkommen? Hast du jeweils nur ‘ne Handvoll Bilder von den verschiedenen Szenen geschickt bekommen und ‚musstest‘ die nehmen oder hast du anhand deiner persönlichen Vorlieben entschieden, was Platz im Buch findet?
Die Szenen sollten 30-50 Fotos einliefern. Ob mehr Trains oder Bombings sollten die Szenen entscheiden. Natürlich habe ich dann abschließend noch eine Auswahl getroffen und auch Fotos aussortiert, da es sonst wohl an die 1000 Seiten geworden wären. Bei der Auswahl der Fotos habe ich auf grundlegende Sachen geachtet, wie Sauberkeit zum Beispiel – auch wenn bei einigen wenigen mal ein Auge zugedrückt wurde, ein beschönigtes Bild wollten wir ja auch nicht vermitteln. Und es wurde versucht eine gute Mischung abzubilden, die der Szene gerecht wird.
Ganz objektiv gesehen, welche Szene hat dich am meisten überrascht bzw. begeisterst. Und von welcher warst du vlt. enttäuscht?
Sehr schade finde ich, dass die Frankfurter Protagonisten nicht ins Buch wollten und demnach fehlen. Daran hatte ich wirklich zu knabbern (Anm.d.Red.: Stefan ist in der Fanszene von Chemie Leipzig zu verorten, die bekanntlich seit vielen Jahren mit der von Eintracht Frankfurt freundschaftlich verbunden sind). Sonst gab es jetzt keine Enttäuschungen, weil ich mehr oder weniger wusste, was mich erwartet. Betonen möchte ich auch, dass bewusst nicht jede Szene drin ist, nur weil sie schon mal einen Stromkasten betaggt hat.
Und begeistert? Wenn ich meine grün-weiße Brille absetze, dann gefallen mir die Sachen von Hansa und Dynamo schon ziemlich gut. Vielleicht sogar Dynamo etwas mehr in Bezug auf Fußballgraffiti, da sie mehr auf die Vereinsfarben gehen und krasse Typo-Sachen haben, die technisch richtig gut sind. Überrascht war ich von Zwickau und Braunschweig und Osnabrück, die für ihre verhältnismäßig kleinen Ultraszenen eine beachtliche Entwicklung genommen haben.
Wie bewertest du die Entwicklung der Szene im generellen in den letzten Jahren?
Positiv! Jetzt einen konkreten Zeitpunkt zu benennen, wann sich die Qualität auch in der Breite durchsetzte, ist schwer. Vor zehn Jahren wäre es für solch ein umfassendes Projekt vielleicht zu früh gewesen. Als es mit der konkreten Recherche für das Buch losging, gab es jedenfalls etablierte Szenen, die eine Entwicklung vorzuweisen hatten. Ich glaub spätestens da hatte sich die, wie man so schön sagt, Spreu vom Weizen getrennt. Nicht mehr jeder Ultra „musste“ Graffitis sprühen, wie es vielleicht noch vor zehn Jahren war, als jede x-beliebige Szene die Dose in die Hand nahm, weil es zu einer Ultragruppe eben dazugehörte. Und wie schon gesagt, mit der Aufnahme der Arbeiten am Buch hatte sich die Qualität vielerorts bereits weiter gesteigert. Auch weil die Vernetzung mit der klassischen Szene immer weiter zunimmt und man dadurch mehr Verständnis füreinander hat.
Denkst du dein Buch wird einen positiven Beitrag leisten, die Szene vielleicht noch mehr pushen?
Das hoffe ich doch. Möge man beim Durchschauen noch mehr Bock bekommen… was nicht als Aufruf zu illegalen Straftaten verstanden werden soll. Und vielleicht habe ich darüber hinaus auch ein paar Vorurteile seitens der klassischen Graffitiszene abbauen können.
Merkt man eigentlich einen qualitativen Unterschied der einzelnen Bilder im Bezug darauf, dass sich die Stadt oder Region geteilt wird? Oder anderes gefragt: Malen Szenen, die eine Stadt für sich alleine haben, besser als Szenen, die sich die Stadt teilen müssen?
In Städten mit mehreren Szenen liegt der Fokus auf Bombing in den durch die entsprechenden Vereinsfarben geprägten Farbkombis und es wird damit ein anderer Aufwand produziert als z.B. bei Szenen, die keinen wirklichen Gegner vor Ort haben (abgesehen vom städtischen Buff und den Cops), die dann aufwändigere Sachen hervorbringen. Leipzig, München und Berlin sind zum Beispiel viel mehr durch Bombing charakterisiert, aber das liegt ja auf der Hand, wenn durch die städtische Konkurrenz die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass die Bilder nach wenigen Tagen wieder ausgecrosst werden.
Planst du zum Buch auch eine Lesereise durch die Republik?
Nein. Ich bin ziemlich ausgelaugt. Habe die letzten Wochen in einer Lagerhalle verbracht und Bücher eingepackt, unzählige Mails beantwortet und freue mich, mal wieder den Kopf freizubekommen, denn das Projekt hat mich definitiv an meine Grenzen gebracht.
Schwirren trotzdem schon Pläne für einen zweiten Teil in deinem Kopf rum?
Klar! Graffiti im Ausland bietet zum Beispiel allerhand interessante Ansätze…
Vielen Dank für das Gespräch und vor allem viel Erfolg für das Buch! Die letzten Worte gehören dir.
Erstmal möchte ich großen Respekt an diejenigen richten, die sich Tag für Tag „dreckig“ machen und damit das Buch ermöglicht haben. Mit dem Buch gibt es nun eine Dokumentation, die das Potenzial hat, ein Standardwerk für Fußballgraffiti zu werden, was man nicht in seinem Regal missen will und auch in ein paar Jahren gerne nochmal rausholt und sich an die Zeit zurückerinnert oder den nachkommenden Szeneleuten vor Augen führt.
Fußballgraffiti – das Buch über die Szene
22,00×28,00 cm, 656 Seiten, Hardcover
39,95 Euro
Erlebnis Fussball Shop
www.fussballgraffiti-buch.de
www.erlebnis-fussball.de
Und noch eine kurze Information für euch zum Schluß. Wir verlosen im Laufe des heutigen Sonntags gemeinsam mit Erlebnis Fußball drei Gewinnpakete über unsere Instagram Seite. Check it out!