Lang ist es her, dass wir euch unsere Lieblingsfilme aus unserer Mediathek vorgestellt haben. Der Januar kommt aktuell noch nicht so wirklich ins Rollen und so bietet sich die Gelegenheit euch einen Film mit Sir Michael Caine ins Gedächtnis zu rufen, der bereits im Jahr 2009 erschienen ist. Vielleicht geht es ja euch so wie mir und ihr habt während des Lockdowns bereits alle interessanten Serien zu Ende geschaut und seid nun auf der Suche nach Empfehlungen.
Michael Caine bekommt in diesem Selbstjustiz-Thriller, der in den Badlands im Südosten Londons spielt, seine schmackhafteste und fieseste Rolle seit „Get Carter“. Harry Brown ist ein Witwer in den 70ern, der in einer Sozialwohnung in einer rauen Siedlung lebt und Medikamente gegen sein Emphysem nehmen muss. Als sein einziger Freund Len, gespielt von David Bradley, von Drogendealern umgebracht wird, entdeckt Harry einen vergessenen Teil von sich wieder: Er war einst bei den Royal Marines und begibt sich nun auf einen Rachefeldzug gegen die Bande.
Daniel Barbers Film nimmt eine interessante Position in einer Art Britfilm-„Kontinuum“ ein, mit Ken Loach am einen und Nick Love am anderen Ende. Interessante, langwierige Szenen zeigen, wie Harry sich mühsam aus dem Bett quält, ein einsames Frühstück zu sich nimmt und abends auf dem Sofa eindöst. Doch als er die Notwendigkeit von Gewalt entdeckt, nehmen die Dinge so richtig Fahrt auf. Für Sir Michael Caine eine Rolle wie auf den Leib geschnitten.
Was Harry Brown noch spannender macht, ist die Art und Weise, wie er einen völlig unvorbereitet erwischt. Der Drehbuchautor Gary Young lässt sich viel Zeit, bis es ans Eingemachte geht. Bis eine Pistole gezogen oder ein Tropfen Blut vergossen wird, ist man extrem entspannt, nachdem man nur einen Vorgeschmack auf Harrys Traurigkeit in alltäglichen Ereignissen bekommen hat. Gerade als Young das richtige Maß an Charakterentwicklung erreicht hat, lässt er los und entfesselt Harrys unglaublich gewalttätige Seite. Was Harry in der Kategorie des Vigilanten hält, anstatt außer Kontrolle zu geraten und kriminell verrückt zu werden, ist seine Professionalität. Er geht seinen „Geschäften“ auf rationale Weise nach.
Harry Brown ist nur ein Zuschauer, wie die meisten der Bewohner der Sozialsiedlung, aber als sein guter Kumpel Leonard von einer Gang bis zum Äußersten getrieben wird und die Cops keine Hilfe sind, fängt es in ihm an zu arbeiten. Jetzt ist Harry an der Reihe, mit der Situation umzugehen, und er tut dies auf eine weitaus kompetentere Weise. Caines Gesicht verändert sich zusehends von einem offenen, sanften Ausdruck – in eines mit schwerfälliger Bedrohung. Das Gesicht, das er einst hatte, als er Kontrahenten im Dienst seiner Majestät gegenüberstand.
Die Polizisten, die alles auf die rücksichtslosen Teenager der Siedlung schieben wollen, bemerken Harrys Bemühungen nicht. Nun, alle bis auf eine, D.I. Alice Frampton (gespielt von Emily Mortimer). Da sie mit Leonards Fall betraut wurde, kennt sie Harry und hat trotz der Unwahrscheinlichkeit, dass er ein „wachsamer Rentner“ ist, ein wachsames Auge auf ihn.
Caine ist wirklich eine Klasse für sich. Er steckt jedes Quäntchen seiner selbst in Harry, und das zahlt sich massiv aus. Er braucht nicht einmal ein Wort zu sagen, um haufenweise Emotionen freizusetzen. Er ist eindeutig ein geplagter Mann, der eine Familientragödie erlitten hat und der seine Kriegsgeschichten jahrzehntelang in sich aufgesogen hat. Aber selbst mit diesen offensichtlichen Problemen ist nichts übermäßig überwältigend. Man kann sehen, wie sich das Rad in Harrys Kopf dreht, ist aber immer im Einklang mit seiner friedlichen Natur. Dennoch ist er unbestreitbar unberechenbar, was eine intensive Spannung erzeugt.
Mehr möchte ich euch gar nicht zur Handlung erzählen, denn ihr sollt ja selbst von der Geschichte und den Wendungen überrascht werden. Denn das Spannungsniveau wird permanent hochgehalten.
Harry Brown hat stilistisch und erzählerisch eine Menge zu verdauen. Was als düsterer Spaziergang im Park beginnt, verwandelt sich in einen irren Überlebenskampf. Die Verwandlung ist hart, aber angemessen. Vieles an Harry Brown entwickelt sich in einer immer stärker werdenden, schockierenden Art und Weise und das ist unbestreitbar erfolgreich. Harrys Situation fühlt sich real an und das macht die Geschichte so greifbar.
Es ist ein Selbstjustiz Thriller der gegen Ende immer Blutrünstiger wird und vielleicht auch etwas überdreht. Und auch wenn die Tories den Film in ihrem Wahlkampf 2010 in der Kampagne „Broken Britain“ zitierten, bleibt er absolut sehenswert. Nicht zuletzt dank der Performance von Michael Caine.