Im Jahr 2022 machte sich eine kleine Reisegruppe des Kurvenmagazins Erlebnis Fussball auf den Weg nach Südfrankreich, zu Fotograf Alain Sauvan. Noch ahnte niemand, welch verborgene Schätze dort auf sie warteten. Der Funke war zuvor im Fussballmagazin 11 Freunde übergesprungen: eine Fotostrecke, die nicht mehr aus den Köpfen wich. Auf den Bildern: Ikonen der Marseiller Ultraszene, eingefangen in Momenten, die den Geist einer ganzen Epoche atmen. Man spürte förmlich den Puls der 90er, das Drängen nach Bari zum Landesmeister-Finale gegen Roter Stern Belgrad.
Diese Bilder weckten eine Sehnsucht – die Ahnung, dass es mehr geben musste. Wenige Tage später war der Kontakt hergestellt, und ein Treffen mit Alain nahm Gestalt an. Nun, nach dieser Begegnung, hält die Redaktion ein Ergebnis in den Händen, das kaum fesselnder sein könnte: „Virage Sud Marseille 1990/91“. Ein Buch aus dem Erlebnis Fussball Verlag, das die Magie der Ultras von Olympique Marseille in voller Intensität spürbar macht.

Wir haben die Gelegenheit genutzt, unseren langjährigen Freund Stefan zur Arbeit an dem Buch ein paar Fragen zu stellen.
Gude Stefan, wie bist du auf Alain Sauvan und seine Fotosammlung gestoßen?
Die Zeitschrift 11 Freunde veröffentlichte im April 2022 ein Dutzend Fotos aus der „Virage Sud Marseille“-Sammlung von Alain. Ich war sofort hin und weg und wollte wissen, ob es noch mehr Fotos aus der Zeit gibt. Daher besorgte ich mir schnell seinen Kontakt und schrieb ihn an. Als er dann meinte, dass er eine Saison lang mit den Ultras unterwegs war und seine Kollektion eigentlich in einer renommierten Zeitung erscheinen sollte, die jedoch nach dem verlorenen Landesmeister-Finale in Bari 1991 die Foto-Reportage zurückzog, war ich umso neugieriger und angetrieben, Alains Fotos endlich gebührend zu würdigen.
Wann stand fest: „Daraus machen wir ein Fotobuch“?
Als Alain per Mail weitere Fotos geschickte hatte, war es sofort klar. Das Feeling, was die Fotos beim Anblick vermittelten, war faszinierend. Ich fühlte, als ob ich mittendrin war … mit den Ultras aus Marseille unterwegs nach Moskau oder nach Bari zum Finale der Landesmeister.
Welche Rolle habt ihr als Erlebnis Fussball im Prozess übernommen – eher kuratierend, redaktionell oder auch gestalterisch?
Redaktionell und gestalterisch. Wenige Wochen nach der ersten Kontaktaufnahme fuhren wir mit einem kleinen Team (Gestalter, Übersetzer) zu ihm nach Frankreich, um alle Fotos zu sichten. Vor Ort haben wir die Fotos ausgewertet und uns die Hintergründe dazu erzählen lassen. Bei reichlich Rosé-Wein saßen wir an Alains Küchentisch und machten also erstmal große Augen und spannten die Ohren ganz weit auf. Nebenher machten wir uns Notizen, denn aus seinen Erzählungen sollten später einleitende Texte entstehen, die die Kapitel „Stadt“, „Fans“, „Vorbereitungen“, „Vélodrome“, „Auswärtsspiele“ und „Depé“ einleiten.
Die Fotos hatten wir zuvor in entsprechende Kapitel kategorisiert. Abschließend führten wir mit ihm noch ein Interview, was das Mindeste in Bezug auf seine Person war, denn seine Lebensgeschichte verdient eigentlich ein eigenes Buch. Zurück in Deutschland ging es dann an die Umsetzung. Sprich, die Notizen wurden in Textform gebracht, an Alain geschickt und schließlich ins Französische übersetzt, da wir das Buch zweisprachig veröffentlichen wollten. Die Gestaltung hat wieder mal meisterhaft EF-Layouter Daniel übernommen. Chapeau!

Gab es eine bestimmte Vision, wie das Buch aussehen sollte (Format, Bildsprache, Zweisprachigkeit)?
Wir wollten die hochwertigen Fotos bestmöglich zur Geltung kommen lassen und ihnen auch mal Platz geben. Es ist also kein Buch, wo die Fotos lieblos aneinander geklatscht sind. Alain, der von Beruf Fotograf ist, hat auch ein Auge draufgehabt und mitgewirkt. Dazu wählten wir ein Format in Übergröße (fast A3), womit bei aufgeschlagenem Buch fast A2-Format erreicht wird, was auch nochmal ganz andere Möglichkeiten mit dem Umgang von Fotos eröffnete. Dass das Buch zweisprachig (deutsch und französisch) erscheint, liegt an dem dokumentarischen Wert der Fotos. Nur Daniele Segre (Ragazzi di Stadio) war zuvor mit der Kamera so ausführlich in den Fankurven unterwegs.
Alain hat mit seinen Fotos eine Saison in Bildern festgehalten und führt uns eine, oder sogar die bedeutendste Ultraszene Frankreichs in den 90er vor Augen. Das Lachen von Depé, der einheizende Stef (RIP), die späteren Ultra-Anführer der South Winners und des CU84 in ihren 20ern – festgehalten für immer in einem großen Fotobuch. Einfach nur geil. Den Ultras von damals wird damit ein Stück Ewigkeit zuteil, Alains Werk endlich gewürdigt und uns die Möglichkeit gegeben, den Spirit der jungen Marseiller Ultras zu spüren. Dies möchten wir mit möglichst vielen Menschen teilen, in Frankreich wie in Deutschland.
Welche Geschichten von Alain oder generell haben euch bei der Arbeit am meisten beeindruckt?
Puhh, da jetzt die eine herauszugreifen ist schwierig. Einmal fuhr er mit dem Fahrstuhl auf das Dach des Vélodrome, um von ganz oben Fotos zu machen. Zu seiner Überraschung war er dort nicht allein. Er traf den Hausmeister samt Freunden, die es sich mit Pastis und Knabbereien gemütlich gemacht hatten, um von oben das Spiel zu schauen. Was für Zeiten damals … er erinnerte sich auch an große Reisen im Europapokal, wie z.B. die nach Moskau, zu Zeiten des Eisernen Vorhangs. Auch beeindruckt waren wir von seiner Lebensgeschichte, die er im Interview erzählte. Nachhaltig berührt sind wir auch von der Einleitung des Buches, die der ehemalige Vorsänger Stéphane Sorrento (alias Stef, der Poet) beisteuerte. Er hatte sich sehr auf das Buch gefreut, verstarb allerdings wenige Wochen, nachdem er uns seine Zeilen geschickt hatte. Das erzeugt in mir immer noch Gänsehaut.
Gab es Fotos oder Anekdoten, die euch überrascht oder zum Lachen gebracht haben?
Als Alain die spätere Ikone „Depé“ im Haus seiner Eltern fotografieren wollte, wurde er von ihm gebeten, Hausschuhe anzuziehen. Anschließend posierte Depé in seinem Kinderzimmer, das mit Schals sämtlicher Vereine geschmückt war. Wenn man bedenkt, zu welcher Bedeutung er später gelangte… Oder die Anekdote, als der Zugführer auf der Rückfahrt aus Bari (Anm.d.Red., Ort des Finales der Landesmeister 1990/91) völlig genervt den Zug verließ und überredet werden musste, wieder zurückzukommen und weiterzufahren. Warum? Das müsst ihr im Buch nachlesen 😉

War es schwierig, aus hunderten oder tausenden von Fotos eine Auswahl von rund 170 zu treffen? Wie lief dieser Prozess ab?
Ja schon. Wie eingangs beschrieben, haben wir die Fotos kategorisiert und auch manche aussortiert. Tausende waren es aber nicht, denn damals wurde noch analog fotografiert und Filme waren teuer. Alain hatte daher meistens einen Film pro Spiel zur Verfügung, der reichen musste. Die Situationen, in denen Fotos entstanden, waren daher meistens mit Bedacht gewählt.
Was unterscheidet dieses Buch von bisherigen Veröffentlichungen über Ultras von Marseille?
Es gibt meines Wissens sonst nur das Buch vom Commando Ultra ´84, was Anfang 2000 erschien und die Historie der Gruppe thematisiert sowie ein Fotobuch über die South Winners (?!) – zumindest hab´ ich so was in die Richtung dunkel in Erinnerung. Virage Sud Marseille 1990/91 ist dahingehend einmalig, da es eine Zeitreise in die Saison der frühen 90er darstellt, eine Zeit, in der die Ultraszene Marseilles vereint war als F-U-W (Fanatics, Ultras, Winners). Definitiv besonders, angesichts der heute teils verstrittenen Gruppen.
Gab es Momente während der Arbeit, in denen ihr dachtet: „Genau deshalb machen wir Erlebnis Fußball“?
Dass uns das Vertrauen gegeben wird, solch ein Projekt umzusetzen, mit all seinen Herausforderungen, hat uns sehr gefreut. Dass wir Alain und die vielen Ultras in Marseille mit dem Buch glücklich gemacht haben, hat uns stolz gemacht. Nach der Premiere im Lokal von CU84 gab es Glückwünsche bis hin zu Autogrammwünschen – genau deshalb machen wir EF (lacht). Spaß bei Seite.
Die Erlebnisse und die Personen, die wir auf Grund der angeschobenen Projekte kennenlernen dürfen, sind genau das, weshalb wir immer wieder neue Motivation entwickeln. Und wir sehen die großartige Möglichkeit, Dinge für die Ewigkeit festzuhalten. Und das in einer Art und Weise, wie es mal als Idee von uns geboren wurde.
À la bonne heure, Stefan!
Wer Lust auf eine Zeitreise in die glanzvolle Hochphase der Marseiller Ultras hat und bislang ungesehene Einblicke erleben möchte, kann das Buch noch bis heute versandkostenfrei im Erlebnis Fussball Shop bestellen. Einmal mehr zeigt die Redaktion großes Kino – voller Hingabe und Leidenschaft für die Ultràkultur, die in jeder Seite dieses Werkes spürbar wird.
Virage Sud 1990/91 von Alain Sauvan
Ein Fotobuch über die Ultras von Marseille
128 Seiten
Format: 28×36 cm (annähernd A3!)
Vorwort von Jean Pierre Papin
Über 170 Fotos
Texte auf deutsch/französisch
35,- Euro
Erlebnis Fussball






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