Kurz vor meinem diesjährigen Sommerurlaub war ich auf der Suche nach einem neuen Buch, das mich inspirieren könnte. Ich hatte mir vorgenommen, die zwei Wochen fernab von Macbook und Tablet zu verbringen, um der Versuchung zu entgehen, doch noch einen Blick in den Posteingang zu werfen oder vielleicht sogar einen Artikel zu schreiben. Als ich nach einem Lesetipp fragte, wurde mir „Nullerjahre“ empfohlen. Bisher hatte ich das Buch noch nicht gelesen, abgesehen von einem kurzen Hören des ersten Kapitels, das jedoch eher nebenbei im Home Office lief. Da es jedoch viele begeisterte Stimmen zu dem Buch von Hendrik „Testo“ Bolz gibt, möchte ich mich an dieser Stelle für den Tipp bedanken und euch das Werk heute vorstellen. Ich weiß, ich bin etwas spät dran, aber vielleicht gibt es ja doch noch einige, die noch nichts von diesem Buch gehört haben. Eine Jugend im Nordosten der Republik. Schonungslos. Ehrlich. Absolut lesenswert.
Jugend in blühenden Landschaften
„Nullerjahre“ ist das autobiografisch geprägte Debütwerk des Autors Hendrik Bolz, das 2022 erschien und schnell zu einem der aufsehenerregendsten Bücher des Jahres avancierte. Es ist mehr als nur eine Rückschau auf die Kindheit und Jugend Bolz‘ in der ostdeutschen Provinz, vielmehr bietet es eine eindringliche Milieustudie der Nachwendezeit und der damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche.
Das Buch erzählt von einer Kindheit und Jugend in den 1990er und frühen 2000er Jahren, die geprägt ist von Perspektivlosigkeit, Gewalt und Drogen. Bolz schildert eindringlich das Leben in einer ostdeutschen Plattenbausiedlung, wo die Verlierer der deutschen Einheit zurückgelassen wurden. Die Protagonisten des Buches, darunter der Autor selbst, wachsen in einem Umfeld auf, das von sozialem Abstieg, Aggression und dem Fehlen von Zukunftsperspektiven geprägt ist. Sie suchen Halt in Jugendgangs, konsumieren Drogen und verlieren sich in einer Welt, die ihnen keine positiven Vorbilder bietet.
Während in den Plattenbauten von Knieper West immer mehr Erwachsene die Suche nach einem Platz im neuen System aufgeben, nehmen Hendrik und seine Freunde die Herausforderung an: Sie finden Auswege aus der Langeweile und Fluchtwege, um keine Prügel zu kassieren. Langsam zerfallen die Frontlinien der Baseballschlägerjahre, an die Stelle der Springerstiefel treten Turnschuhe, die Böhsen Onkelz werden von Aggro Berlin abgelöst, die Optionen bleiben die gleichen: Fressen oder Gefressenwerden.
Im Kindergarten, in der Schule und im Fußballverein haben sie gelernt, dass ein großer Junge nicht weint und dass der Klügere nur so lange nachgibt, bis er der Dümmere ist. Nun gilt es, härter zu werden, um, wenn es drauf ankommt, dem anderen die Nase zu brechen. Und stumpfer zu werden, um dabei nicht zu zögern. Die Mittel finden sich – Kraftsport, Drogen, Rap. Und bald sind es neue »Kleine«, die sich verstecken müssen. Hendrik Bolz erzählt eindringlich von einem Jahrzehnt im Osten Deutschlands, das uns ein Stück bundesrepublikanische Gegenwart erklären kann.
Die Kraft des Buches liegt in Bolz‘ schonungsloser Ehrlichkeit und der Authentizität seiner Erzählung. Er beschreibt die gesellschaftlichen Zustände und die alltäglichen Herausforderungen seiner Generation aus einer sehr persönlichen Perspektive, die dem Leser die Tragweite der geschilderten Erlebnisse unmittelbar nahebringt.
Hendrik Bolz wurde 1988 in Stralsund geboren und wuchs in einer Plattenbausiedlung in Greifswald auf. Nach der Wende erlebte er, wie die Gesellschaft um ihn herum auseinanderbrach. Dies prägte ihn nachhaltig und bildet den Kern seiner literarischen Auseinandersetzung mit seiner Jugend. Bolz, der heute vor allem als Musiker bekannt ist, ist Teil des Rap-Duos Zugezogen Maskulin, das sich in seinen Texten ebenfalls intensiv mit sozialen und politischen Themen auseinandersetzt.
Mit „Nullerjahre“ verarbeitete Bolz seine eigenen Erfahrungen und die seiner Generation. Er wollte den Menschen eine Stimme geben, die im öffentlichen Diskurs oft übersehen werden – die Kinder der „Abgehängten“, die im Niemandsland der Nachwendezeit aufwuchsen. Durch seine Arbeit als Musiker hatte Bolz bereits einen Weg gefunden, gesellschaftliche Missstände zu thematisieren, doch mit diesem Buch ging er noch einen Schritt weiter, indem er seine ganz persönliche Geschichte erzählte.
Für Bolz war es wichtig, die Desillusionierung und den Nihilismus seiner Jugend zu dokumentieren. Das Buch ist nicht nur eine Abrechnung mit der Vergangenheit, sondern auch eine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart. Bolz zeigt auf, wie die gesellschaftlichen Probleme von damals bis heute nachwirken und welche Narben sie hinterlassen haben.
Sein Buch wurde von der Kritik überwiegend positiv aufgenommen und als wichtiger Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur gewürdigt. Es ist ein Buch, das den Leser mit seiner rohen Ehrlichkeit und der schonungslosen Schilderung einer Jugend am Rand der Gesellschaft berührt und zum Nachdenken anregt. Bolz gelingt es, eine Geschichte zu erzählen, die nicht nur seine eigene ist, sondern die vieler Menschen in Ostdeutschland und darüber hinaus.
Wenn meine Informationen stimmen, wird „Nullerjahre“ mittlerweile auch auf ostdeutschen Bühnen inszeniert. Ich bin sehr gespannt zu sehen, wie das Buch dort umgesetzt wurde.
Zum Abschluss hört ihr den Autor über sein Werk sprechen. Falls euch unser Buchtipp neugierig gemacht haben sollte, bestellt euch eine Ausgabe beim Buchladen um die Ecke oder direkt beim Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Nullerjahre
Hendrik Bolz
Kiepenheuer & Witsch
Erhältlich seit 02.11.2023
352 Seiten
ISBN: 978-3-462-00524-0