Daniele Segre war eine entscheidende Stimme im italienischen Sozialdokumentationskino und hat mit seinem Buch „Ragazzi di Stadio“ die Subkultur der italienischen Ultras in ihren Pionierjahren am Beispiel der beiden Vereine aus Turin fotografisch festgehalten.
Daniele ist diese Woche leider verstorben. Für mich der Grund, warum ich euch sein Werk bei uns in Erinnerung rufen möchte.
„Ragazzi di Stadio“ ist ein faszinierendes ethnografisches Werk des italienischen Schriftstellers und Journalisten Daniele Segre. Das Buch taucht in die aufregende und oft kontroverse Welt der italienischen Fußballfans ein und liefert einen tiefen Einblick in die subkulturellen Phänomene, die in den Stadien Italiens während Fußballspielen stattfinden.
Er verbrachte viel Zeit damit, sich unter die jungen Männer und Frauen zu mischen, die die Stadien Italiens bevölkern, und beobachtete ihre Verhaltensweisen, Rituale und Leidenschaften.
Sein Buch zeigt, wie die Fußballstadien zu Bühnen für soziokulturelle Ausdrucksformen werden, die weit über das sportliche Geschehen hinausgehen. Die Ultras haben ihre eigenen Codes, Symbole und Hierarchien entwickelt, die ihren Zusammenhalt und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen stärken.
Der 1979 als Kurzfilm und Buch erschienene Film untersucht die kollektive Praxis der rivalisierenden Ultras der Stadt Turin: AC Turins Ultras Granata und Juventus‘ Fossa dei Campioni und Fighters. Auch wenn vielleicht ein Schwerpunkt bei Juve festzustellen ist, ein Muss für jeden, der die Verbindung zwischen Sport, Kultur und Gesellschaft erforschen möchte. Leider wurde das Werk nie ins Englische übersetzt und die Bianconeri sind doch (leider) präsenter.
Das Buch „Ragazzi di Stadio“ enthält meist schwarzweiß Porträtfotos der Ultras von Juve und Toro. Für sein Buch hat er sich u.a. Beppe, dem ersten Capo und einer der Gründer der Fighters Juventus unterhalten. Die Gespräche waren sehr offen, behandelten die familiären Verhältnisse, seine Wünsche für die Zukunft, seinem Verhältnis zu seiner Freundin oder auch die „überbezahlten Profis“.
Auf Seiten von Toro sprach Daniele ebenso offen mit Margaro, dem historischen Capo der Ultras Granata.
Bei Toro begannen vier Turinerinnen in den Jahren 1970/71, die sich für den A.C. Turin begeisterten, sich in der Curva Maratona am Rande der Curva zu treffen, das damals als Niemandsland galt. S.L.A.S., ein Graffiti, das die Gruppe an eine Wand im Zentrum von Turin gesprüht hatte, diente als Inspiration für den Namen der Gruppe, der für die Initialen der vier Gründerinnen stand (Susanna, Luisa, Anna, Silvia). Die S.L.A.S DONNE ULTRAS konnte man fortan inmitten von Fackelrauch oder dann auch hinter dem Hauptbanner der Ultras Granata entdecken.
Das Wort „donne“ (Frauen) in Verbindung mit einer Fußballkurve war damals etwas Ungewöhnliches, was die Fähigkeit der vier Mädchen überraschte, mit ihrer Leidenschaft ein massives Stereotyp zu untergraben, das mit Geschlechterrollen im Fußball verbunden war. Susanna, Luisa, Anna und Silvia schlüpften in ein traditionell männliches Umfeld, das von ihrer Leidenschaft und Entschlossenheit bewegt wurde, und nahmen damit viele feministische Kämpfe vorweg, die noch kommen sollten, und sind auch heute noch Pionierinnen.
Daniele Segre stellte mit seinem Buch die Frage, wie die Welt der Fußballfans die Jugendkultur in Italien beeinflusst und wie diese subkulturellen Bewegungen die Gesellschaft und Politik beeinflussen können. Er beleuchtet die Spannungen und Konflikte, die in der Welt der Ultras auftreten, und hinterfragt die soziale Bedeutung und den Einfluss dieser Jugendlichen auf die italienische Gesellschaft.
Quarant´anni dopo
Die Seria Saison 2017/18. 40 Jahre später kehrt Daniele Segre mit einer Art zweitem Teil seines Dokumentarfilms auf die Leinwand zurück.
Wir hören ein Lied aus dem Fußballstadion, das von Trommelschlägen unterbrochen wird. Die Anfeuerungsrufe der Ultras und Tifosi steigen und fallen wie die Gezeiten, zwischen Ebbe und Flut, und feuern Juventus an. Eine Gruppe von Menschen in den Fünfzigern verfolgt das Spiel im Fernsehen. Testone, Dino, Corona, Leo und Mimmo sind seit vierzig Jahren „Ragazzi di stadio“, Ultras von Juve und haben nun Daspo (dt. Stadionverbot). Dennoch unterstützen sie ihre Mannschaft weiterhin mit derselben Leidenschaft, organisieren Gedenkfeiern und Märsche und spielen weiterhin eine aktive Rolle in der Gruppe.
Der Film bringt uns die soziale und menschliche Komplexität dieser Figuren nahe, ihre Zeit im Gefängnis, ihre soziale Ausgrenzung, ihre Erlösung und ihre Revolte. Sie sind durch eine Gemeinsamkeit geeint: Ultras. Ein Ritual, das Testone und seinen alten und jungen Mitstreitern die Hauptrolle im Guten und im Schlechten, im Gestern und im Heute gibt. Dank dieser neuen Zeugenaussagen, Archivbildern aus früheren Filmen des Filmemachers und dem exklusiven Zugang zu den Lebensgeschichten dieser Gruppe von Ultras werden wir den menschlicheren und realistischeren Aspekt des Fußballs beleuchten: den Menschen hinter dem Banner, dem Megafon oder in der Bar Stadio.
Der Film zeigt Protagonisten der Drughi Bianconeri, die erzählen was die Gruppe und der Calcio für sie bedeutet: eine Fluchtmöglichkeit, eine Familie und im Grunde ein ebenso initiativer wie archaischer Ritus, der die Instinkte befreit.
Ich möchte eure Aufmerksamkeit auf dieses Werk lenken, das mich in meiner Jugend als ultràorientierter Fußballfan fasziniert hat, noch bevor diese Subkultur ihren Weg über die Alpen zu uns gefunden hatte. Auch wenn ich damals kein Italienisch verstand, hatten die Bilder für mich eine gewisse Kraft und Magie. Auch wenn leider doch sehr viele waffen zu sehen waren. Vergleichbar wie früher auch mit dem Supertifo Magazin oder der Fototifo Homepage, die das Spieltagsgeschehen der italienischen Kurven festhielt.
CIAO DANIELE
Hier für euch der Trailer von Ragazzi di Stadio 40 Anni Dopo, der auch Aufnahmen des Films von 1979/80 zeigt. Wenn ich es richtig verstehe, könnt ihr dort den Film für 10,- EUR direkt beim Verleiher sehen. Kostenlose YouTube Links sind mir leider nicht bekannt.
Source: Daniele Serge
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