von Bobo van Dalen
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Nervenstärke ist eine Kunst und es gibt eine Reihe von Meistern ihres Faches. Steigen Druck und Testosteronspiegel massiv, flankiert von rahmenbedingten Konstellationen und fallen dann die falschen Worte, formen sich wohl selbst bei einer liegenden balinesischen Buddhastatue goldene Hassfalten auf der Stirn. Kann jedem mal passieren. Tragisch wird es allerdings, wenn dabei abermillarden Augenpaare zusehen. Dieser Stoff hat das Zeug zur Legende und wurde zu einer der berühmtesten Szenen der Fußballgeschichte.
Ausgangslage
Wir reisen zurück in das Jahr 2006. Deutschland ist Austragungsnation der 18. Fußball-Weltmeisterschaft. Fußballunkundige junge Damen, behängt mit schwarzrotgoldenen Blumenketten säumten das öffentliche Erscheinungsbild und sorgten mit Love, Peace und Harmony für ein woodstockartiges Hippiegefühl. Nachdem die Squadra Azzura die DFB-Auswahl im ersten Halbfinale nach Hause schickte (die haben demnach also Deutschland nach Deutschland geschickt? Hä?), stimmte die Tricolore in der zweiten Partie die gegnerischen Portugiesen auf den Fado ein und buchten somit das Finale im Berliner Olympiastadion gegen Italien. Bevor das Spiel einen Weltmeister fand, kam es zu einem Show-Down zweier Duelanten, wie es die Fußballgeschichte bis dato noch nicht erlebte.
Die Akteure
In direktem Zweikampf stehen sich Männer gegenüber, die im Vereinsfußball so ziemlich alles gewonnen haben, was das Angebot hergibt. Der Weltfußballer Zinédine Zidane trifft auf einen der weltbesten Innenverteidiger Marco Materazzi. Beide Alphatiere sind heiß auf den Sieg, den Pokal und den Eintrag in die Geschichtsbücher. Ohne es zu ahnen sollte einer von beiden auch ohne den Weltmeistertitel in die Analen des Weltfußballs eingehen.
Beide Mannschaften standen sich bereits im Finale der Europameisterschaft 2000 in Rotterdam gegenüber, das Frankreich in der Verlängerung mittels Goalden Goal für sich entscheiden konnte. Die Italiener hatten sich für Berlin „Vendetta“ auf die Fahnen geschrieben. Wieder Finale, wieder Verlängerung, der Spannungsbogen ächzte schon in dramatischer Erwartung zu brechen.
Die Situation
Während der gesamten Spielzeit kam es zwischen beiden Kontrahenten immer wieder zu kleinen Nicklichkeiten, die jedem Kreisklassenkicker bestens vertraut : Trikots erfahren Qualitätschecks durch händische Materialprüfungen, mangels körperlicher Koordination steht ein Fuß auf dem Gegners und ab und zu wird auch so mancher Ellenbogen magnetengleich von fremden Oberkörpern angezogen. Soweit alles normal, das ist Fußball.
Zweikämpfe reihen sich aneinander und beide Torschützen buhlen brünftigen Keilern gleich um die Vorherrschaft auf dem Platz, die den Titelgewinn letztlich zum Ziel hat. Beide Mannschaften schenken sich nichts. In der regulären Spielzeit sind es ausgerechnet Zidane und Materazzi, die jeweils mit einem Tor die Spielzeit verlängern. Allen Spielern stecken die Strapazen der zurückliegenden Vereinssaison und des Turniers in den Knochen. Aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters müssen die damals Mitdreißiger nochmal richtig beißen. Beide Silberrücken könnten ihre lange wie erfolgreiche Karriere mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft krönen, Zidane sogar zweifach. Unter Beobachtung der fast 70.000 Stadionbesucher, Milliarden Fernsehzuschauern und vermutlich einiger Fußballinteressierter extratherestrischer Quantenpräspetorianern tickert die Uhr unaufhörlich in Richtung Elfmeterschießen.
Während besagte Kreisklassenkicker in entsprechenden Situationen auch mal gern mit voller Hingabe die Nerven verlieren, haben sich Profis durch jahrelange Routine eher im Griff. Mit dem Alter kommt ja sprichwörtlich die Weisheit und im Hinblick auf den Pokal, übergeht man so manches Scharmützel. Doch dann Schlägt die Uhr zur 109. Minute. Der Italiener zieht Zidane am Trikot, woraufhin einige verbale Noten ausgetauscht werden. in der Folge kommt es dann zu einem der spektakulärsten Fouls im Weltfußball. Doch eins nach dem andern:
Ein gewöhnlicher Zweikampf scheint geklärt; Materazzi umklammerte Zidàne und löste die Umklammerung, als der Ball außer Reichweite geriet. Beide tätschelten sich kurz gegenseitig, damit schien die Angelegenheit vom Tisch zu sein. Wie zwei Spaziergänger liefen sie sich unterhaltend nebeneinander her. Als Zidane das Tempo anzieht und an Materazzi hinter sich lässt, gibt im dieser noch ein paar Worte mit auf den Weg. Aus etwa zwei Meter Entfernung dreht Zidane zunächst seinen Kopf, wird langsamer, und dreht sich nun komplett um. Nach einem Moment des Innehaltens nimmt seine Körperspannung sichtlich zu; die Körperhaltung ändert den Modus von „Läufer“ in „Türsteher“. Während der Italiener gemächlich auf Zidane zugeht, steht der Franzose bewegungslos vor ihm. Für einen Wimpernschlag stehen sich die beiden im Abstand einer Armlänge gegenüber. Ein weiterer Wimpernschlag, Zidane senkt seinen Kopf und rammt diesen mit dem Schwung seiner Oberkörpermuskulatur kopfnussgleich auf das Brustbein von Materazzi, der umgeht als wäre er ein das uneheliche Kind eines nassen Sackes und einer Bahnschranke!
So manch einer hat diese Szene damals nur so halb verfolgt. Unsere Jungs waren ausgeschieden, worüber das inzwischen achte Bier hinwegtröstete. Seelisch wie moralisch liefen schon die gedanklichen Vorbereitungen aufs Elfmeterschießen und das neunte Bier. Dann das! Scheinbar ohne nennenswerten Kontext streckte der eine den anderen nieder. Wahnsinn! Spätestens jetzt waren alle wieder hellwach und mit allen Sinnen bei den Geschehnissen in Berlin. Der Schiedsrichter lief auf Zidane zu, den roten Karton hielt er bereits verdeckt in seiner Hand. Aus seiner laufschrittbedingten Armbewegung heraus, reckte der argentinische Unparteiische die Karte gen Berliner Abendhimmel, als wäre es die choreographische Untermalung seines Karaoke-Gesangs zu Gloria Gaynors „I will survive“ in einer thailändischen Transenbar . Aufgrund seines roten Oberteils wurde die Karte erst spät sichtbar. Ein bisschen wirkte es, als käme die Karte wie die Klinge eines Springmesser aus seiner Hand, was aber auch auf die acht Hellen zurückzuführen wäre. Mit gesenktem Haupt verlässt Zidane den Platz. In Höhe der Seitenauslinie passiert er den WM-Pokal, bevor er im Dunkel der Katakomben verschwindet. Es sollte das letzte Spiel für Frankreich gewesen sein…
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Die Sachverhaltsermittlung
Was war geschehen? Welche Worte fielen? Was ließ einen erfahrenen Profi derart die Fassung verlieren? Drei Fragezeichen! Einige Wochen nach dem Turnier äußerte sich Materazzi in der Gazzetta dello Sport folgendermaßen: „Ich habe an seinem Trikot gezogen. Da hat er gesagt: Wenn ich sein Trikot unbedingt haben wolle, könne ich es ja nach dem Abpfiff haben. Ich habe darauf geantwortet, dass mir seine Schwester lieber wäre“. Materazzi veröffentlichte im Nachgang ein Buch mit dem Titel „Was ich wirklich zu Zidane sagte“. Hierin gestand er, seiner Antwort tatsächlich noch die Worte „die Nutte“ angefügt zu haben, worauf Zidane bekanntermaßen reagierte, der sich hingegen inhaltlich zum genauen Wortlaut nicht weiter äußerte.
Die Folgen
Nach der Weltmeisterschaft wurden beide Spieler mit einer Sperre belegt. Materazzi wurde für zwei Spiele aus dem Verkehr gezogen und musste 5.000 Franken Strafe zahlen. Zidane musste 7.500 Franken berappen und wurde für drei Spiele gesperrt, was aber aufgrund seines Karriereendes in der Nationalmannschaft bedeutungslos wurde.
Im Nachgang schlachtete Matertazzi die Geschehnisse in Form eines Buches aus und bot zu allem Überfluss sogar noch Frieden an. Zidane will mit dem Italiener weder Frieden, geschweige den reden, lehnte auch das von einem französischen Fernsehsender geplante Treffen der Kontrahenten ab. In der spanischen Zeitung „El Pais“ bat Zidàne beim Fußball, den Fans und der Mannschaft um Vergebung, aber niemals bei ihm. Das würde ihn entehren und lieber würde er sterben.
Der algerische Künstler Abdel Abdessemed setze dieser ikonenhaften letzten Szene seiner Karriere in der Equipe ein Denkmal und schuf eine fünf Meter hohe Plastika aus Bronze. Die Skulptur soll als „Ode an die Niederlage” gegen die Tradition gehen, stets Statuen zu Ehren irgendwelcher Siege zu errichten und auch mal die Schattenseiten zu thematisieren.
Das Wort zum Sonntag
In der Berichterstattung nach dem Finalspiel bezeichnete der fleischgewordene Musterschwiegersohn, Gerhard Delling die Geschehnisse als tragisch und sagte wörtlich: „Man hat fast mit dem Täter Mitleid“. Er meinte damit Zìdàne. Doch war er der Täter oder nur derjenige, der auf den Täter reagierte?
Jemanden grundlos zu schlagen ist nicht gerechtfertigt, jemanden ebenso zu beleidigen auch nicht. Physische Gewalt als Reaktion auf verbale, relativiert vorgenannte und kann beispielsweise eine Respektschelle (die, eine mit gestrecktem Arm und flacher Hand aus der seitlichen Bauchmuskulaur heraus angetriebener Schlag mit der flachen Handinnenfläche auf Ohr oder Wange des Gegenübers) legitimieren.
Im konkreten Fall war der Kopfstoß für sich genommen ein klares und unsportliches Foul, das gar nicht anders als einen Platzverweis nach sich ziehen konnte. Im Gegenzug wäre aber die Beleidigung folgenlos geblieben, wenn Zidàne nicht auf seine Art geantwortet hätte. Ist das etwa fair? Die Gewissheit zu haben, eine durchgeladen zu bekommen, sollte man andernleuts Mütter und Schwestern als Gewerbliche bezeichnen, das ist fair!
Zidàne ließ sich im letzten Spiel seiner Karriere für die französische Nationalmannschaft dazu hinreißen, einem nivolosen Minusmenschen in Sachen mangelnder Kinderstube nachzuhelfen. Dies führte ihn vorbei an dem goldenen Pokal hinab in die dunklen Katakomeben des Stadions. Das ist tragisch, lieber Herr Delling. Inziwschen ist aus dem tragischen Helden eine Legende geworden….