Olá Sapeuristen!
Exakt heute vor vier Jahren am 04.12.2011 verlor Brasilien einen seiner größten Söhne am runden Leder, aber auch neben dem Platze. Die Rede ist von Socrates Brasilleiro Sampaio de Souza Vieira des Oliveira, welcher aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit als Kinderarzt auch einfach nur Dr. Socrates genannt wurde. Der Tod sollte ihn bereits im Alter von 57 Jahren als Folge einer Blutvergiftung ereilen. An dieser Stelle wollen auch wir einen Moment innehalten und an diese große Persönlichkeit des brasilianischen Fußballs gedenken.
Natürlich ist der Redaktion auch bewusst, dass insbesondere die jüngeren Semester unserer Leserschaft nun erst einmal mit einem kleinen Fragezeichen vorm Rechner oder Ihren intelligent Mobiltelefonen sitzen. Darum möchten wir euch „Dr. Socrates“ und seine Leistungen auf und neben dem Platze ein wenig näher bringen.
Auf dem Platz
Dr. Socrates begann im zarten Alter von 20 Jahren seine Profikarriere bei Botafogo FC bevor er vier Jahre später (1978) zu Corinthians Sao Paulo wechselte. Seine Zeit bei den Corinthians von 1978 bis 1984 kann wohl mit Recht als seine Hochzeit als Profi bezeichnet werden. Neben den drei Titeln der Campeonato Paulista (1979, 1982 und 1984) wurde er auch fester Bestandteil der brasilianischen Nationalmannschaft. Einer Nationalmannschaft, welche zwar nie den ganz großen Titel des Weltmeisters für sich gewinnen konnte, aber dennoch von den Brasilianern bis heute als eine, vielleicht sogar die beste Nationalmannschaft bezeichnet wird die je die Farben der „Selecao“ getragen hat. In nackten Zahlen ausgedrückt war ein zweiter Platz bei der Copa America 1983 der größte Erfolg, obwohl auch jeder Fußballfan in Europa mit der Zunge schnalzte, wenn er einen weitern so klangvollen Namen dieser Mannschaft wie Zico hörte.
Das wohl legendärste Spiel von Socrates im Trikot der Selecao war das Viertelfinale der WM86 in Mexiko. Der damalige Gegner war der amtierende Europameister Frankreich, welcher in seinen Reihen mit Michel Platini vielleicht den zu dieser Zeit stärksten Spieler hatte. Ein packendes Spiel entwickelte sich zwischen beiden Teams, welches am Ende durch das Elfmeterschießen entschieden werden musste. Wie immer im Fußball liegen Genie und Wahnsinn ganz dicht beieinander und so vergaben ausgerechnet die beiden Ballkünstler Socrates und Platini jeweils Ihren Elfmeter. Frankreich konnte sich trotzdem durchsetzen, aber scheiterte im Halbfinale gegen Deutschland. Der Rivale und Nachbar Brasiliens Argentinien sollte am Ende Weltmeister sein und während sich Socrates aus der Selecao verabschiedete begann in Argentinien ein neuer Stern des Fußballs mit Diego Armando Maradona zu leuchten, aber das ist eine andere Geschichte, welche wir euch mal irgendwann erzählen.
Die sportlichen Leistungen von „Dr. Socrates“ sind auch deswegen so beeindruckend, weil er mit seinem Gardemaß von 1,92m nicht unbedingt der klassische brasilianische Spielertypus gewesen ist. Von der Erscheinung wohl eher ein brasilianischer Alex Meier, obwohl sich dieser Vergleich eigentlich aus Ehrerbietung gegenüber Socrates verbietet. Auch der Lebensstil von Socrates galt als nicht besonders professionell. Das Training war eher eine lästige Pflicht, aber dafür feierte er am Abend umso lieber. Als Kostverächter von Zigaretten und Alkohol galt er ebenso wenig. Der Konsum letzteres sollte sich allerdings als ein Baustein seines verfrühten Ablebens herausstellen.
In diesem Zusammenhang ist leider nicht übermittelt, ob diese unprofessionelle Einstellung daran schuld gewesen ist, dass das Intermezzo in Europa beim AC Florenz (84/85) lediglich ein Jahr andauern sollte. Danach sollten noch zwei weitere Stadion bei Flamengo und dem FC Santos folgen. Seine Einsatzzeiten lassen allerdings darauf schließen, dass diese Zeiten eher durch Verletzungen oder einem Platz auf der Bank geprägt gewesen sind. Offiziell verabschiedete sich Socrates 1989 von der Bühne des Profifußballs. 15 Jahre später sorgte Socrates noch einmal für Aufsehen als er einen Vertrag in der neunten englischen Liga bei Garforth Town unterschrieb und dort auflief. Kann man sich mal zum 50. Geburtstag gönnen.
Neben dem Platz
Socrates war als Spieler sicherlich kein unumstrittener und einfacher Spieler, aber er war ein sehr intelligenter Mensch, welcher nicht nur eine Promotion als Kinderarzt erlangen sollte, sondern auch immer für die Demokratie und Freiheit in seinem Verein, aber auch in seinem Heimatland eintrat. Eine Einstellung, welche in seiner aktiven Zeit bei den Corianthians schon deswegen als besonders galt, weil in Brasilien zu dieser Zeit eine Militärdiktatur das Sagen hatte und unsere eigene historische Geschichte zeigt, dass diese politischen Systeme meist sehr ungehalten auf jede Form der Kritik reagieren. Allerdings haben unsere Recherchen keinerlei Hinweise darauf ergeben, dass der Spieler und Mensch Socrates jemals eine ernsthafte Bestrafung durch die regierende Junta erfahren hat. Scheinbar waren der Respekt vor diesem großen Spieler und das Wissen, dass die Maßnahme einer Bestrafung in der Bevölkerung nicht besonders gut ankommen würde, sein Schutzschild.
Im Team der Corinthians hatte Socrates zudem mit den Spielern Wladimir und Walter Casagrande zwei politische Mitstreiter, welche sich ebenfalls öffentlich für Demokratie und Freiheit eingesetzt haben. Durch einen Wechsel an der Vereinsspitze von den Corinthians 1982 bekam Socrates auch dort mächtige Mitstreiter! Dieser Umstand war die Geburtsstunde der Etablierung der „Democracia Corinthians“, bei der es sich um ein System der Selbstverwaltung handelte. Alle Entscheidungen im Verein wurden gemeinsam von den Verantwortlichen und den Spielern durch Abstimmung getroffen. Bei der Abstimmung hatte jeder Stimmberechtigte exakt eine Stimme! Das bedeutete, dass die Meinung eines jungen Nachwuchsspielers nicht weniger gewichtig gewesen ist wie die Stimme des Vereinspräsidenten. Die „Democracia Corinthians“ war damit mehr als nur eine interne Vereinsorganisation, sie war damit das basisdemokratische Gegenstück zur vorherrschenden Militärjunta in Brasilien.
Das Team der Corinthians wurde im Zuge dieser Entwicklung auch die erste Mannschaft mit Trikotwerbung im brasilianischen Fußball. Allerdings nutze man die Trikotfläche weniger für kommerzielle als für politische Zwecke. So forderten die Spieler und der Verein medienwirksam auf ihren Trikots freie Direktwahlen. Letztlich kann man nur spekulieren ob und in welchem Umfang das Arrangement der „Democracia Corinthians“ tatsächlich dazu beigetragen hat, dass die Militärjunta 1985 durch demokratische Wahlen abgelöst wurde, aber Fakt ist, dass die soziale und demokratische Bewegung in der Bevölkerung in dieser Zeit immer stärker wurde. Ich denke wir alle kennen den Stellenwert des Fußballs in der brasilianischen Bevölkerung und auch das sehr passive Verhalten der Militärs gegenüber den Spielern und dem Verein zeigt mir auf, dass der Zusammenhang durchaus zu sehen ist. Der Prozess der Demokratisierung wurde dadurch zumindest nicht gestoppt, sondern eher beschleunigt.
Die Umstrukturierung des Vereins sollte aber auch den sportlichen Erfolg wieder mit sich bringen, welches durch die beiden Stadtmeisterschaften 1982 und 1983 belegt wird. Die beiden Meisterschaften war natürlich auch ein exzellenter Multiplikator für die politischen Botschaften, aber auch der wirtschaftliche Erfolg, welcher den Verein wieder auf Spur brachte. Die Einführung der Demokratie in Brasilien 1985 bedeutet allerdings gleichzeitig das Ende der Bedeutung der Bewegung.
In der Zeit der „Democracia Corinthians“ wurde auch die Idee des „Club dos 13“ geboren, bei dem es sich um einen Interessenszusammenschluss der dreizehn einflussreichsten Klubs handeln sollte. Die Idee wurde allerdings erst 1987 ins Leben gerufen als der heimische Ligabetrieb im Chaos zu versinken drohte. Der brasilianische Verband wollte damals die Liga reduzieren. Zwei Teams klagten allerding erfolgreich auf Aufnahme in diese Liga. Ein Urteil welches auch für weitere Vereine eine Signalwirkung hatte und auch diese begannen auf Aufnahme zu klagen. Der Verband sah sich im Zuge dieser Entwicklung nicht in der Lage einen Ligabetrieb zu organisieren. Die vermeidlich dreizehn großen Vereine der brasilianischen Liga gründeten darauf den „Club dos 13“ und luden noch drei weitere Vereine für Ihre 16er-Liga ein. Ein Umstand welcher auch dem Verband ermöglichte eine eigene Meisterschaft nun zu organisieren. So wurden 1987 in der grünen Gruppe (Club dos 13) und in der gelben Gruppe (Verband) zwei getrennte Meisterschaften in Brasilien durchgeführt. Der Meister der grünen Gruppe wurde Flamengo und in der gelben Gruppe das Team von Recife. Der Vorschlag des Verbandes, dass die Meister noch einmal die Gesamtmeisterschaft ausspielen sollten, wurde vom „Club dos 13“ abgelehnt. Offiziell ist deswegen Recife bis heute der Meister dieser Saison. Als der tatsächliche Meister wird allerdings Flamengo angesehen. Im Jahr 2000 sollte es noch einmal zu einem ähnlichen Chaos kommen und wieder sprang der „Club dos 13“ ein und organisierte die brasilianische Meisterschaft. Bis heute ist der „Club dos 13“ als Interessensverband von mittlerweile rund 20 Klubs aktiv und kann zumindest als eine weiterhin bestehende Idee der „Democracia Corinthians“ verstanden werden.
Abpfiff
Nach seinen aktiven Zeiten auf dem Platz und neben den Platz für die „Democracia Corinthians“ verlagerte Socrates sein Wirken auf die Arbeit als Kinderarztes. In dieser Zeit blieb er allerdings immer ein kritischer Geist des brasilianischen Fußballs, welcher auch immer wieder Reformen des Sportes verlangte. Ein besonders großer Dorn im Auge war die defensive Entwicklung der Selecao. Aus seiner Sicht konnte eine brasilianische Nationalmannschaft nur erfolgreich sein, wenn sie sich auf ihre spielerischen und offensiven Stärken besinnt.
In einem Interview 1983 beantwortet Socrates die Frage wie er sterben wolle so: „Ich möchte an einem Sonntag sterben und Corinthians soll Meister werden“. Socrates starb am 04.12.2011. Es war ein Sonntag und wenige Stunden nach seinem Tod wurden die Corinthians durch ein 0:0 gegen Palmeiras brasilianischer Meister.
Dein Wunsch wurde wahr Socrates – Zeig dem Himmel wie man Fußball spielt!
Vilbelmaggus
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